Soziale Selektivität an Bildungsübergängen

Auf dem Weg ins Gymnasium und später an die Hochschule wirken an den Übergangsstellen systematische Ablenkungen des stratifizierten und segmentierten Bildungssystems, die Kinder aus tieferen sozialen Schichten am Zugang zur tertiären Bildung «hindern» (Becker 2009). Die erste solche Schnittstelle stellt das Ende der Primarschulzeit mit dem Übergang in die Sekundarschule dar. Bildungsferne Gruppen entscheiden sich zu diesem Zeitpunkt für kürzere und weniger anspruchsvolle Bildungsgänge, die den späteren Zugang zu akademischen Ausbildungen erschweren oder versperren (Becker 2010a). Der besuchte Schultyp auf der Sekundarstufe I trägt demnach entscheidend zur weiteren Ausbildungslaufbahn bei: «Wer einen Schultyp mit Grundanforderungen besucht, ist von fast allen allgemeinbildenden Ausbildungsgängen (Gymnasium, Fachmittelschule) und weitgehend auch von Berufsausbildungen mit hohem intellektuellem Anforderungsniveau ausgeschlossen» (Hupka-Brunner et al. 2012, S. 204).

Die zwischen den Sozialschichten wirkenden Faktoren werden anhand der von Boudon (1974) vorgeschlagenen Unterscheidung in primäre und sekundäre Herkunftseffekte aufgeteilt. Der primäre Effekt bezieht sich auf Leistungsunterschiede, die dazu führen, dass Kinder aus höheren sozialen Schichten infolge ihrer Sozialisation, gezielten Förderung und des anregenden Elternhauses günstige Fähigkeiten aufweisen, in der Schule gute Leistungen zu erbringen (Becker 2009). Sie haben deshalb auch gute Chancen, ins Gymnasium zu wechseln. Der sekundäre Effekt beschreibt den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsentscheidungen zu Gunsten weiterführender und höherer Bildung (Becker 2010b). Insbesondere am Ende der Sekundarschule, wenn die Entscheidung Gymnasium oder Berufslehre getroffen werden muss, variiert diese in Abhängigkeit der ökonomischen Ressourcen sowie der Distanz zum System höherer Bildung erheblich zwischen den sozialen Schichten (Becker 2009). Eltern aus der Unterschicht und mit geringer Ausbildung entscheiden in Selektionssituationen eher für Schulformen mit geringen Anforderungen (Neuenschwander 2013). Obwohl diese Familien hinsichtlich der Schulbildung ihres Kindes ein grosses Interesse daran haben, mindestens den eigenen sozialen Status zu erhalten, mangelt es ihnen oft an ausreichenden Informationen, um die Kosten und den allfälligen Nutzen einer weiterführenden Ausbildung einzuschätzen, weshalb sie eher darauf verzichten (Kost 2013). Aufgrund der Kopplung von niedriger Schicht und geringen Erfolgschancen für ein Hochschulstudium besteht zusätzlich ein hohes Risiko in anspruchsvollen Berufsausbildungen zu scheitern (Becker und Hecken 2008). Selektive Anreize wie beispielsweise der Lohn in der beruflichen Ausbildung führen zusätzlich dazu, dass die Jugendlichen aus Arbeiterfamilien vom Weg ans Gymnasium abgelenkt werden (Kost 2013).

Literatur:

  • Becker, Rolf (2009): Wie können „bildungsferne“ Gruppen für ein Hochschulstudium gewonnen werden? In: Köln Z Soziol 61 (4), S. 563–593. DOI: 10.1007/s11577-009-0081-6.
  • Becker, Rolf (2010a): Soziale Ungleichheit von Bildungschancen in der Schweiz und was man dagegen tun könnte. Vortrag im Rahmen der Fachtagung: „Zukunft Bildung Schweiz“. Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Bern, 21.04.2010.
  • Becker, Rolf (2010b): Soziale Ungleichheit von Bildungschancen in der Schweiz und was man dagegen tun könnte. Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Bern, 21.04.2010.
  • Becker, Rolf; Hecken, Anna Etta (2008): Warum werden Arbeiterkinder vom Studium an Universitäten abgelenkt? Eine empirische Überprüfung der „Ablenkungsthese“ von Müller und Pollak (2007) und ihrer Erweiterung durch Hillmert und Jacob (2003). In: Köln Z Soziol 60 (1), S. 7–33. DOI: 10.1007/s11577-008-0001-1.
  • Boudon, Raymond (1974): Education, opportunity and social inequality. Changing prospects in western society. New York: Halsted Press.
  • Hupka-Brunner, Sandra; Sacchi, Stefan; Stalder, Barbara E. (2010): Social Origin and Access to Upper Secondary Education in Switzerland: A Comparison of Company-based Apprenticeship and Exclusively School-based Programmes. In: Swiss Journal of Sociolog 36 (1), S. 11–31.
  • Kost, Jakob (2013): Durchlässigkeit und Hochschulzugang in der Schweiz. Permeability and higher education entrance in Switzerland. Freiburg: Academic Press.
  • Neuenschwander, Markus P. (2013): Selektion beim Übergang in die Sekundarstufe I und in den Arbeitsmarkt im Vergleich. In: Markus P. Neuenschwander (Hg.): Selektion in Schule und Arbeitsmarkt. Zürich/Chur: Rüegger, S. 63–97.